Nachrufe und Erinnerungen

ÜBER OBERKANTOR ESTRONGO NACHAMA
Der Kantor. Zum Tode von Estrongo Nachama

Von Hermann Simon

„Ist es wahr?, stimmt das?“ „Ich kann es nicht glauben.“ Immer wieder dieselben Worte. Es ist wahr, und wir werden uns daran gewöhnen müssen: Estrongo Nachama lebt nicht mehr. Am 13. Januar des noch jungen Jahres 2000 (nach jüdischem Datum ist das der 6. Schwat 5760) ist er „eingeschlafen“, wie die Abendnachrichten vermelden. Nachrufe über Nachrufe werden in den nächsten Tagen erscheinen, in allen wird stehen, welch ein begnadeter Sänger er war. Das stimmt, aber Estrongo Nachama war mehr: Er war die Gemeinde schlechthin, und er war das wichtigste Bindeglied zwischen Jüdischer Gemeinde und nichtjüdischer Umwelt. Juden wie Nichtjuden in meiner Heimatstadt Berlin, ja in ganz Deutschland, kennen seine Stimme und werden sich seiner erinnern, wann immer sein Name genannt wird.

Hall of Memory
Estrongo Nachama, am 4. Mai 1918 in Saloniki als Sohn eines Getreidehändlers geboren, wurde 1943 mit seiner ganzen Familie von den Nazis, die auch Griechenland unter ihre Gewalt bekommen hatten, nach Auschwitz verschleppt. Alle Familienmitglieder wurden ermordet. Nur Estrongo überlebte die Lagerhölle, dank seiner Stimme, die bei den Nazi-Schergen sehr gefragt war. Nach seiner Befreiung im Jahre 1945 kam Estrongo Nachama, körperlich versehrt aber geistig ungebrochen, nach Berlin. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin, die einen Nachfolger für ihren alten Kantor suchte, bewegte Nachama zu bleiben. Seither verschrieb er sich, im Lande seiner Mörder, dem Geiste des „Rachamin“ (des göttlichen Erbarmens), der Vermittlung und Verständigung zwischen Juden und Christen, Israel und Deutschland, Ost und West. Er wurde der erste Vorbeter, der hebräische Gesänge auf evangelischen und katholischen Kirchentagen vortrug. Seine Sabbat-Feiern wurden jahrzehntelang vom RIAS übertragen. Seine Stimme erlangte Weltruhm. Nachamas letzter Gesangsauftritt im Berliner Dom im April 1998 war kirchen- und landespolitisch von größter Bedeutung. Doch nicht nur Estrongo Nachamas gewaltiger Tenor wird unvergessen bleiben.
Aus: http://www.juedisches-berlin.de/Hall_of_Memory/Nachama.html


Tagebucheintrag Andreas Nachama

Freitag 18 Uhr – Synagoge Pestalozzistraße – Berlin Charlottenburg: Die Orgel spielt auf: In schwarze Talare gewandet betreten zwei Männer die Kanzel. Der eine stellt sich mit dem Rücken zur Gemeinde vor das Vorlesepult, der andere setzt sich die Gemeinde ansehend in ein Synagogengestühl. Doch merkwürdigerweise zieht nicht der der Gemeinde zugewandte alle Aufmerksamkeit an sich, sondern der rücklings stehende. Mit sonorem Bariton erfüllt er die 8oo Plätze fassende Synagoge, und erfaßt die hinter ihm sitzenden Beter, ohne sich tatsächlich umzuwenden.

Er füllt den Raum, nicht nur mit seiner Stimme und er wendet seine Aufmerksamkeit den Betern und Gästen zu, ohne sich der Gemeinde zuzuwenden. Halbe Drehungen verschaffen ihm den Überblick, hier ein Zwinkern, dort ein Lächeln beim Singen. Da kriecht ein Kleinkind die 6 Stufen zur Kanzel herauf, unsicher schwankend, die Gemeinde hält den Atem an: daß das Kind nur nicht Hals über Kopf die Treppe herabstürzt: Auf der Kanzel angekommen zupft es den Oberkantor am Talar: Der öffnet die Schublade des Pultes und gibt, betend, singend, sich herabbeugend dem Kind einen Lolly… Synagoge Pestalozzistraße: Sabbat-Feier. Nicht ernst gemeint? Sehr konzentriert gesungen, nein gebetet: Estrongo Nachamas Weg: Es tönt von der Erde zum Himmel empor!


Toravorlesung am Schabbatmorgen

(Photo Fotostudio Beyer)

Nach dem Gottesdienst: Die Gemeinde strömt dem Ausgang zu. Estrongo, der Oberkantor badet in der Mange seiner Beterinnen und Beter. Vielleicht sind ja auch einige Anbeterinnen darunter. Der 79-jährige gibt hier ein Küßchen und dort einen jovialen Schlag auf die Schulter. „Wie geht es der Mama?“ – „Was macht ihre Tochter – ja die habe ich letztlich im Krankenhaus besucht“. „Was höre ich denn? – Die Oma ist gestorben, ja klar mache ich die Beerdigung…“

Pastorale Basisarbeit – Teil des Gottesdienstes, der ein Konzert war und doch musikalische Zwiesprache mit Gott. Am nächsten Morgen setzt sich der Sabbat Gottesdienst fort. Statt der 300 bis 400 Beterinnen und Beter, kommen vielleicht 120. Estrongo, der Oberkantor singt mit gleicher Intensität und liest aus der hebräischen Bibel in jenem unverkennbaren Singsang, der an Gregorianik erinnert und doch ein ganz eigens System der Notation ist. Auf die Frage, warum er sich denn nun nicht schone, wo nur so wenige den Weg in die Synagoge gefunden haben, antwortet er: „Für zehn jüdische Männer“, das Gebetsquorum für einen öffentlichen Gottesdienst, „habe ich die gleiche Verantwortung wie 100 oder 1000.“

Aus: Erneuere unsere Tage Jüdisches aus Berlin, S. 156


ÜBER OBERKANTOR ESTRONGO NACHAMA

Mit Herz und Stimme
Vor fünf Jahren starb Oberkantor Estrongo Nachama
von Jola Merten und Detlef D. Kauschke
„Eto hat uns die Sonne geschickt“, sagt die Gemeindeälteste Inge Marcus lächelnd, als sie bei kaltem Wind, aber strahlendem Sonnenschein am Sonntagmittag auf dem Friedhof Scholzplatz am Grab von Estrongo Nachama stand. Sie blickt auf die Ruhestätte des am 13. Januar 2000 verstorbenen Oberkantors, dessen Grabplatte den Schriftzug trägt: „Seine Lust war Singen. Sein Leben war Gebet.“ Rund hundertfünfzig Gemeindemitglieder sind zum Jahrzeit-Gedenken gekommen. Unter ihnen sind Ruth Galinski und die ehemaligen Gemeindevorsitzenden Jerzy Kanal, Alexander Brenner und viele Beter der Synagoge Pestalozzistraße. Der amtierende Gemeindechef Albert Meyer würdigt die Leistung Nachamas beim Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Berlin und in Deutschland. Der orthodoxe Gemeinderabbiner Yitshak Ehrenberg erinnert an die „herrliche Stimme“ des Oberkantors, ein besonderes Geschenk Gottes. Für viele Menschen sei es eine Frage, welche Pflicht und Aufgabe sie auf dieser Welt zu erfüllen hätten. Für Estrongo Nachama sei dies stets klar gewesen. „Er war auf dieser Welt, um zu singen. Und er hat seine Pflicht als Mensch und Jude auf dieser Welt erfüllt“, sagt Ehrenberg.

In der Synagoge am Hüttenweg, wo Estrongo Nachama ab 1957 die jüdischen Gottesdienste der US-Streitkräfte bis zu deren Abzug betreute, amtieren inzwischen sein Sohn Andreas als Rabbiner und sein Enkel Alexander als Kantor zur Ausbildung für die Betergemeinschaft Sukkat Schalom. Hier fand die abendliche Gedenkfeier statt, musikalisch umrahmt vom Chor der Synagoge Herbartstraße und Kantor Laszlo Pasztor. Neben den mehr als zweihundert Gemeindemitgliedern zollten auch Vertreter der nichtjüdischen Öffentlichkeit dem Verstorbenen ihre Reverenz. Pastor Rudolf Weckerling betonte in seinem Gedenkwort die Verdienste Estrongo Nachamas um den christlich-jüdischen Dialog. Der liberale Rabbiner Ernst Stein, langjähriger Weggefährte, charakterisierte Eto, wie Estrongo Nachama von Freunden genannt wurde, als zuverlässigen, hart arbeitenden Menschen, der dreiundfünfzig Jahre lang der Gemeinde unermüdlich diente, „eine starke Persönlichkeit mit Charisma“. Tatsächlich vermochte der am 4. Mai 1918 in Saloniki geborene Estrongo Nachama wie kein anderer mit seiner begnadeten Stimme Schmerz und Zuversicht, Verzweiflung und Hoffnung Ausdruck zu geben. „Singen ist mein Leben“, sagte er oft. Singen hat ihm auch das Leben gerettet. Als einziger seiner Familie hat er Auschwitz überlebt, wohin er 1943 mit seinen Eltern und den zwei Schwestern deportiert worden war. Für ein „O Sole Mio“ warfen ihm die Wachposten ab und zu ein Stück Brot hin. Die Mithäftlinge schöpften Hoffnung aus seinem Gesang. Die auf dem linken Unterarm tätowierte Häftlingsnummer 116155 war nur ein äußeres Mal der Qualen, die er hatte durchleiden müssen. Später nach Sachsenhausen verschleppt, war er einer der Überlebenden des berühmten Todesmarsches. Am 5. Mai 1945 – einem Tag nach seinem Geburtstag – wurden sie bei Kyritz befreit. Danach kam Estrongo Nachama, körperlich versehrt, aber geistig ungebrochen, nach Berlin. Sein Überleben bezeichnete Estrongo Nachama als „großes Wunder“ und feierte, wie Rabbiner Stein erinnerte, seine Befreiung am 5. Mai stets als seinen zweiten Geburtstag. Bald erhielt Nachama das Angebot der jüdischen Gemeinde, wurde 1947 Kantor, schließlich Oberkantor – und sang sich mit seinem schmelzenden sonoren Bariton in die Herzen von Juden und Christen. „Wer hätte dem sefardischen Juden in Saloniki an seiner Wiege gesungen, daß er einmal die Leitfigur einer aschkenasischen Gemeinde und der Traditionsträger der vom Berliner Komponisten Louis Lewandowski im neunzehnten Jahrhundert geschaffenen Gebetsgesänge werden würde“, fragte Sohn Andreas Nachama nicht ohne Genugtuung.

Estrongo Nachama, der mit seiner Aura die Menschen verzauberte, prägte mehr als fünf Jahrzehnte lang das jüdische Leben Berlins, vor allem in „seiner“ Synagoge Pestalozzistraße in Charlottenburg. „Mit seinem raumgreifenden Wesen stellte der Oberkantor jeden Rabbiner neben sich in den Schatten. Ein Lidschlag reichte, um Respekt und Zuneigung zu gewinnen“, hat seine Frau Lilli beobachtet und im Buch Jüdische Berliner zu Protokoll gegeben. Für den einen oder anderen Rabbiner wird dies wohl nicht ganz leicht zu verkraften gewesen sein. Nach dem Gottesdienst wurde aus dem Oberkantor Estrongo wieder der charmante Eto, der das Bad in der Menge der ihn liebenden und bewundernden Beter sichtlich genoß. Er sang auf Barmizwa-Feiern, auf Beerdigungen, zu den Hohen Feiertagen, bei Gedenkveranstaltungen, weihte Synagogen in Deutschland, Frankreich und Polen ein, gab unzählige Konzerte. Nachamas Stimme, die seit 1948 wöchentlich im RIAS und später im DeutschlandRadio zur Schabbatfeier erklang, wurde zum Synonym jüdischen Lebens in Deutschland.

Dank seines griechischen Passes konnte er auch nach dem Mauerbau die jüdische Gemeinde im Ostteil Berlins weiter betreuen, trat dort bei Synagogalkonzerten mit dem Berliner Rundfunkchor, später mit dem Magdeburger Domchor in der Synagoge Rykestraße auf.

Nachama war nicht nur ein faszinierender Künstler, seelsorgerische Arbeit war für den „Kantor mit dem goldenen Herzen“ immer Teil seines Lebens, bis zuletzt. Verzagte munterte er auf, besuchte Kranke, tröstete Trauernde, gratulierte Jubilaren. Er war „a Mensch“, der sich für jeden interessierte.

Zur Jahrzeit ist eine CD erschienen: „Schabbat- Feier, Estrongo Nachama live“, Vertrieb über: www.nachama.de Bei Gottesdiensten und Konzerten – Singen war sein Leben: Oberkantor Estrongo Nachama sel. A.

Estrongo Nachama (1918-2000) seit 1947 Vorbeter und (Ober)Kantor der Jüdischen Gemeinden in Berlin, entstammte einer sephardischen Familie aus Saloniki, deren Vorfahren – Rabbiner und Talmudgelehrte 1492 aus Spanien in das damalige Osmanische Reich geflüchtet waren. Sein Vater war Getreidehändler, in dessen Geschäft Estrongo nach seinem Abitur eintrat. Im Frühjahr 1943 wurde er nach der Niederlage der griechischen Armee, in der er als Soldat seinen Dienst tat, mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Während seine gesamte Familie vernichtet wurde, überlebte Estrongo Nachama das Konzentrationslager und den Todesmarsch der Häftlinge von Sachsenhausen; im Mai 1945 wurde er bei Nauen von der Roten Armee befreit. In Berlin lernte er seine spätere jüdische Frau kennen, die den Faschismus im Untergrund überlebt hatte, und verzichtete auf die ursprünglich geplante Rückkehr nach Griechenland. In der Jüdischen Gemeinde von Berlin arbeitete sich Nachama in die aschkenasische Liturgie ein und orientierte sich musikalisch am Stil der im 19. Jahrhundert in Wien von Salomon Sulzer (18041890) und in Berlin von Louis Lewandowski (1823-1894) entwickelten synagogalen Musik. Als griechischer Staatsbürger konnte Nachama auch während der Teilung der Stadt Berlin vom Westen aus die Jüdische Gemeinde in Berlin-Ost betreuen. Sein Gesangsstil bestimmte nach dem II. Weltkrieg in der Öffentlichkeit das Bild vom modernen synagogalen Gesang, nicht zuletzt dank seiner vielen Auftritte und Schallplattenaufnahmen. Für seine Leistungen erhielt Nachama mehrere Bundesverdienstkreuze. – Ein Verwandter von Estrongo Nachama, der ebenfalls aus Saloniki stammende Historiker Joseph Nehama (1881-1971), hat die spanische Herkunft und die Geschichte dieser Familie in seiner Histoire des Israélites de Salonique dargestellt (erschienen 1935-1936: Bände 1-4; 1959: Band 5); darin wird auch von der Familientradition berichtet, an den ältesten Sohn den Schlüssel des Hauses in Spanien zu vererben (dieser Schlüssel ist seit der „Arisierung“ des Eigentums der Juden von Saloniki laut brieflicher Auskunft durch Rabbiner Dr. Andreas Nachama, Sohn des Estrongo Nachama, verschollen). Als Mitglied des jüdischen Komitees der Alliance Israélite Universelle in Saloniki und als einflußreicher Bankier organisierte Joseph Nehama die Flucht zahlreicher –Sepharden von Saloniki nach Athen, wurde jedoch im März 1944 von den Nazis verhaftet und ebenfalls nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er in den letzten Kriegstagen befreit. Über die Vernichtung des sephardischen Judentums in Griechenland veröffentlichte Nehama (gemeinsam mit Michael Molho) The Destruction of Greek Jewry (1965). Nach seinem Tod wurde 1977 in Madrid sein Dictionnaire du Judéo-Espagnol (Sephardisch-Französisch) herausgegeben, das erste umfangreiche Wörterbuch der sephardischen Sprache.

aus:
Eugen Heinen:
Sephardische Spuren II
Einführung in die Geschichte des Iberischen Judentums, der Sepharden und der Marranen, Kassel 2002